Der Einzelhandel erlebt zur Zeit eine Strukturkrise, erkennbar an Geschäftsaufgaben und Leerständen über Jahre auch in vermeintlich guten Geschäftslagen. Selbst der Aachener Markt, das Aushängeschild, stand neulich wegen der Schließung renommierter Geschäfte in der Diskussion. Erklärungsversuche gibt es viele, je nach Blickwinkel in die eine oder andere Richtung. Dabei spielt das Auto eine zentrale Rolle, für die Innenstädte als Fluch und Segen zugleich.
Unstrittig ist, dass der Radverkehr gefördert werden muss, doch die Ausweisung von Radwegen auf Kosten von Parkplätzen und Fahrstreifen stößt an ihre Grenzen. Und somit wird um jeden qm heiß gerungen. Wenn dann noch an Hauptstraßen der Lieferverkehr angrenzender Geschäfte beachtet werden soll, werden diese Konzepte scheitern. Der Feldversuch Adalbertsteinweg zeigt, dass dem Lieferverkehr die geringste Priorität beigemessen wird. Doch wenn ein Geschäft nicht beliefert werden kann, kann es langfristig auch nicht betrieben werden. Spätestens dann, wenn der Mietvertrag ausläuft, ergeben sich Veränderungen, Stadtentwickler reden vom „Trading Down“-Effekt. Der Grund, warum man in die Stadt fahren wollte, hat sich erledigt, da die Geschäfte, die man eigentlich besuchen wollte ins Gewerbegebiet umgezogen sind. Als Alternative sind dann außergewöhnlich hohe Dichten von Kiosken, Grillstuben und Nagelstudios zu beobachten.
Ein interessanter Versuch der Stadt Aachen für ein anderes Konzept ist die Einrichtung sogenannter Rad-Vorrang-Routen. Sie verlaufen parallel der Auto-Hauptachsen in den Nebenstraßen. Es gilt Tempo 30, Radverkehr hat Vorrang, aber Autoverkehr ist erlaubt. Für den (Auto)-Durchgangsverkehr sind diese Routen uninteressant, da zu langsam. Die erste Route führt vom Bahnhof Eilendorf über Vennbahn, Bahnhof Rothe Erde, Bismarckstraße, Lothringerstraße zum Elisenbrunnen, Routen von Brand und Campus Melaten Richtung Innenstadt sind im Bau. Einer Umfrage der Stadt zufolge ist die Zustimmung der Bevölkerung mit 2/3 sehr hoch.
Ich bin die Route von Eilendorf zum Elisenbrunnen mit dem Rad abgefahren. Obwohl sie ca. 1 km länger ist als die kürzeste (Auto-)Verbindung, kommt man doch deutlich schneller vorwärts, da man auf der gesamten Strecke von nur 5 Ampeln (!) aufgehalten wird. Das ist insofern bemerkenswert, da Ampeln in der Regel für den Autoverkehr getaktet sind und für den Radverkehr meist eine „rote Welle“ darstellen. Auf den jetzt schon fertigen Abschnitten Hansmann-, Marien- und Beverstraße fühlt man sich als Radfahrer sicher und bekommt einen Eindruck, wie es demnächst auf der Bismarck- und Lothringer Straße einmal werden soll.
Erstaunt hat mich, dass von den geschätzt 100 Ladenlokalen entlang der Route nur 3 leer gestanden haben. Einige Geschäfte haben erst vor wenigen Monaten neu eröffnet, Discounter halten an für ihre Verhältnisse kleinen Filialen fest. (Netto in der Bismarckstraße und in der Harscamstraße) In dem Neubauprojekt Bismarckstraße/ Viktoriaallee (ehemals Vegla) sind mehrere Geschäftslokale, darunter auch für ein Lebensmittelgeschäft vorgesehen. Die Straße, sonst eine Barriere durch den immerzu fließenden Verkehr, wird hier zum Bindeglied zwischen den beiden Seiten. Die Bismarckstraße mit dem Neumarkt und dem Frankenberger Park ist bei schönem Wetter so belebt, wie man es fast nur von der Innenstadt her kennt. Die Lothringer Straße wird gerade mit breiten Fußgängerwegen und Radstreifen ausgebaut, die Plätze an den Ecken Friedrichstraße und Harscampstraße werden folgen. Entwickelt sich hier gerade eine neue Perspektive für ein neues Miteinander zwischen Verkehr, Wohnen und Einkaufen? Für den Einzelhandel mit einem Angebot für den täglichen Bedarf sind Standorte entlang dieser Routen interessant, da sie sowohl für Fußgänger und Radfahrer attraktiv, für Autofahrer aber nach wie vor erreichbar sind. Verglichen mit den Hauptverkehrsstraßen ergeben sich klare Standortvorteile.
Da die Bismarckstraße schon länger ein ausgewiesenes Nahversorgungszentrum war, wird sie mit der Route aufgewertet. Der Verlauf ist insofern gut gewählt.
Machbar wäre ein Konzept, die vorhandenen Hauptverkehrsstraßen dem Auto zu überlassen, den Radverkehr mit den attraktiveren Wohn- und Einkaufsmöglichkeiten aber in die Nebenstraßen zu holen. Ich hoffe, dass das Experiment Radweg auf dem Adalbertsteinweg nicht weiter verfolgt wird, da es den Autoverkehr wieder in die Nebenstraßen verdrängt und somit das Konzept der Radvorrangrouten entwertet. Und das sagt ein begeisterter Radfahrer, der gar kein Auto besitzt.
Ihr Wolfgang Görgens